Schweiz: Diskussion um Insieme - Kampagne "Schraube locker" & Co.

Mittwoch, 5. Mai 2010

Wieder eine Provokation, doch die Empörung bleibt aus
Von Markus Brotschi in der BAZ online
Foto: Sulzer, Sutter AG

Insieme zeigt Plakate von geistig Behinderten mit Aussagen wie «Schraube locker». Die IV musste eine ähnliche Kampagne nach heftigen Protesten von Behindertenverbänden abbrechen.

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«Schraube locker? Sprung in der Schüssel? Für mich keine Behinderung»: Mit diesen Sprüchen werden ein Mann und eine Frau mit Downsyndrom präsentiert. Verantwortlich für die Kampagne ist Insieme, eine Organisation für Eltern behinderter Kinder. Vor einem halben Jahr stand auf Plakatwänden Ähnliches: «Behinderte sind dauernd krank» oder «Behinderte liegen uns nur auf der Tasche». Absender war die Invalidenversicherung (IV). Die IV musste ihre Kampagne nach einem Entrüstungssturm der Behindertenorganisationen, darunter auch Insieme, abbrechen.

Wie kommt Insieme dazu, auf ihr 50-jähriges Bestehen mit der gleichen Methode hinzuweisen, die sie kürzlich verurteilte? «Es sind Redewendungen, die jeder von uns kennt», sagt Kommunikationsleiterin Beatrice Zenzünen. Ziel sei es, eine Diskussion über Vorurteile anzuregen. Zenzünen sieht den Unterschied zur IV-Kampagne darin, dass die IV zuerst nur Vorurteile verbreitete und «viel zu lange mit der Auflösung der Urheberschaft zuwartete». Zudem seien die Auflösungen schlecht erkennbar gewesen und keine Betroffenen einbezogen worden.

Das Tabu brach Pro Infirmis

Fragt sich allerdings, ob die IV nicht kritisiert worden wäre, wenn neben den Sprüchen Behinderte abgebildet worden wären. Die Auflösung lieferte die IV aufgrund der Proteste nach wenigen Tagen: «Behinderte liegen uns nur auf der Tasche – wenn wir ihre Fähigkeiten nicht nutzen», «Behinderte sind dauernd krank – und trotzdem morgens die Ersten im Büro». Doch es war zu spät, die Kampagne wurde eingestellt.

Von Kritikern der IV-Plakate erhält die Insieme-Kampagne Lob. Die Abbildung Betroffener schaffe Authentizität und verleihe den Sprüchen Selbstironie, findet Bruno Schmucki vom Invalidenverband Procap. Bei der IV-Kampagne sei die Provokation dagegen im Vordergrund gestanden.

Bis vor wenigen Jahren verwendeten Behindertenverbände nur Symbolbilder oder zeigten höchstens einen Rollstuhlfahrer von hinten. Das Tabu brach 2001 Pro Infirmis, die Menschen mit ihrer Behinderung zeigte, etwa mit einem verstümmelten Bein. Für Mark Zumbühl, Kommunikationschef von Pro Infirmis, kommt es auf den Urheber einer Kampagne an. «Die Insieme-Kampagne kommt von den Betroffenen und von Organisationen, welche die Anliegen von Menschen mit Behinderung verstehen.» Auf den Plakaten sind Schauspieler der Zürcher Theatergruppe Hora zu sehen, die mit geistig Behinderten arbeitet. Die Plakate seien im Einverständnis mit den Betroffenen, den Angehörigen und den Betreuern realisiert worden, betont Insieme.

«Vorurteile werden zementiert»

Für den Zürcher Werber Frank Bodin erreicht die Insieme-Kampagne ihr Ziel trotzdem nicht. «Sie sagt mir nichts Neues und widerlegt das im Spruch ausgedrückte Vorurteil nicht. Damit werden die Vorurteile sogar zementiert.» Bodin hält sowohl die Insieme-Plakate als auch jene der IV für «dumm». Als Beispiel einer gelungenen Kampagne nennt er jene von Pro Infirmis. Mit dem Slogan «Wir lassen uns nicht behindern» seien Menschen mit ihrer körperlichen Behinderung auf würdige Weise gezeigt worden und hätten ein «neues Selbstbewusstsein» demonstriert. Diese Aussage sei für die Betrachter neu und überraschend gewesen. Wer aber Kalauer wie «Schraube locker» brauche und Menschen mit einer Schraube oder einer zersprungenen Schüssel präsentiere, zeige, dass eine grundlegende Kampagnenidee fehle.

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