Interview mit dem neuen Behindertenbeauftragten der Bundesregierung Hubert Hüppe

Dienstag, 16. Februar 2010

Geführt von Robin Alexander für Die Welt


DIE WELT: Schon das Sprechen über Behinderte scheint kompliziert. Die Bundesregierung spricht offiziell nicht mehr von "Behinderten", sondern von "Menschen mit Behinderungen". In den USA ist der Begriff "handicaped" (behindert) durch "challenged" (herausgefordert) ersetzt worden. Wie weit soll das noch gehen?

Hubert Hüppe: Ich sage Menschen mit Behinderung oder behinderte Menschen. Übel ist es, wenn Menschen nur über ihre Behinderung definiert werden. Dies merkt man aber mehr am Verhalten als an den Worten. Einige Dinge würde ich allerdings nie sagenMenschen leiden nicht am Down-Syndrom, sie haben Down-Syndrom, denn sie haben ein Chromosom mehr und leiden, wenn überhaupt, an den Reaktionen der anderen. Das sage ich Ihnen als Schwerstmehrfachnormaler.

DIE WELT: Schwerstmehrfachnormaler?

Hüppe: Ein Scherz, den Behinderte gerne über Nichtbehinderte machen, weil er unser einseitiges Konzept von Normalität auf die Schippe nimmt.

DIE WELT: Ist nur die sprachliche Sensibilität der Gesellschaft gewachsen?

Hüppe: Nein. Es hat sich in den vergangenen Jahren viel zum Guten gewandelt. Menschen mit Behinderung sind nicht mehr Betreute und Versorgte, sondern sie sind zu Bürgern geworden, die Dienstleistungen abrufen. Das alte Denken, behinderte Menschen in Sondereinrichtungen, Sonderschulen und Sonderwelten abzuschieben, ist auf dem Rückzug. Hätten wir mehr Menschen, denen der Umgang mit behinderten Menschen von Kindesbeinen an vertraut ist, dann hätten auch weniger ein Problem damit, an ihrem Arbeitsplatz einen behinderten Kollegen zu haben.

DIE WELT: Was wollen Sie in Ihrem Amt erreichen?

Hüppe: Das kluge Prinzip, dass Menschen, die von Entscheidungen betroffen sind, an diesen Entscheidungen beteiligt werden, soll auch für behinderte Menschen gelten. Zur Umsetzung der UN-Konvention über die Rechte von Menschen mit Behinderung werden wir bald einen Beirat einsetzen. Darin sollen Betroffene die Mehrheit haben - wir
brauchen auch die anderen gesellschaftlichen Gruppen wie Kirchen, Gewerkschaften und Verbände -, aber die Mehrheit sollen die haben, um die es geht. Denn es gilt immer noch der Grundsatz"Nichts über uns - ohne uns."

DIE WELT: Tut Deutschland genug für seine Bürger mit Behinderungen?

Hüppe: An Gesetzen mangelt es oft nicht. In Deutschland haben Menschen mit Behinderung relativ viele Ansprüche. Aber einen Anspruch haben und ihn einlösen zu können, sind zwei grundverschiedene Dinge. Betroffene werden heute oft von Behörde zu Behörde geschickt. Manchmal wird geradezu spekuliert, dass sie irgendwann aufgeben. Wir brauchen also eine zentrale Stelle, an die sich behinderte Bürger wenden können. Das Gesetz schreibt diese eigentlich schon vor, aber in der Realität werden sie oft irgendwo an einem Leistungsträger angedockt und erschrecken regelrecht, wenn sie im Alltag entdeckt werden.

DIE WELT: Sind Ihre Ziele in der Behindertenpolitik auch die Ziele der schwarz-gelben Regierung?

Hüppe: Die Umsetzung der UN-Konvention steht im Koalitionsvertrag. Aber ich bin nicht Mitglied der Bundesregierung, sondern vertrete die Belange behinderter Menschen innerhalb der Bundesregierung. Notfalls werde ich auch meine Stimme erheben, wenn Politik gegen Menschen mit Behinderung gemacht wird.

DIE WELT: Wo wird denn Politik gegen Behinderte gemacht?

Hüppe: Manchmal gar nicht absichtlich. Die Belange von behinderten Menschen werden gerne vergessen. Deshalb werde ich alle Ministerien daran erinnern, dass Gesetze überprüft werden müssen, ob sie für Menschen mit Behinderungen relevant sind. Auch ich übersehe vielesSo hatten mich die Gehörlosen darauf aufmerksam gemacht, dass mit dem damals neuen Telekommunikationsgesetz ihr Anspruch auf spezielle Telefone verloren zu gehen drohte. Darauf wäre ich alleine auch nicht gekommen.

DIE WELT: Es gibt einen großen Streit in der Behindertenpolitik über die Abschaffung der Sonderschulen.

Hüppe: Dieser Streit ist entschiedenDeutschland hat eine UN-Konvention unterzeichnet, die zwingend vorschreibt, dass behinderte Kinder auf dieselben Schulen gehen dürfen wie nicht behinderte Kinder und wir unser Schulsystem umbauen müssen. Es geht also nicht mehr um das Ob, sondern nur um das Wie.

DIE WELT: Und um das Wann. Eltern klagen, die Bundesländer verschleppten die Umsetzung der Konvention bewusst.

Hüppe: Ich erwarte von allen Ländern, dass sie noch in diesem Jahr Maßnahmen ergreifen, um behinderten Kindern den Besuch der Regelschule zu ermöglichen, wie es die UN-Konvention vorschreibt.

DIE WELT: Schwarz-Gelb geführte Länder tun sich dabei bisher nicht gerade hervor.

Hüppe: Das ist leider wahr. Unsere Leute haben Angst um das dreigliedrige Schulsystem, das durch die Sonderschulen ja eigentlich ein viergliedriges ist. Aber es ist doch unfair, gegen die Einheitsschule zu kämpfen und dann sowohl Körperbehinderte als auch Mehrfachschwerstbehinderte in dieselbe Schule gehen zu lassen. Gymnasiasten ist ein blinder Mitschüler nicht zuzumuten, aber ein Rollstuhlfahrer besucht selbstverständlich mit einem Schwerstmehrfachbehinderten die Förderschule. Auch ich war lange ein überzeugter Vertreter des getrennten Schulsystems, aber ich habe irgendwann verstanden, dass gemeinsames Lernen nicht Gleichmacherei bedeuten muss, sondern im Gegenteil zur Differenzierung führen kann und so die Leistungsfähigkeit aller Schüler steigert. Das setzt natürlich auch entsprechende Rahmenbedingungen voraus. 30 Schüler und eine Lehrkraft, das geht nicht.

DIE WELT: Heute besuchen Behinderte nicht nur besondere Schulen, sondern arbeiten oft auch in besonderen Betrieben, wie Behindertenwerkstätten.

Hüppe: Gerade in mittelständischen Unternehmen und Familienbetrieben sind behinderte Arbeitnehmer oft sehr geschätzte Mitarbeiter. Anders sieht es leider bei den Konzernen ausDie Großbetriebe waren schon einmal weiter. Als Kind musste ich immer auf meinem Schulweg über ein Stahlwerk gehen. Die Pförtner waren Kriegsgeschädigte. Damals wollte das Unternehmen gleich am Eingang seine soziale Verantwortung zeigen. Heute rücken sie aus Imagegründen die Jungen, vermeintlich Leistungsfähigen und Gutaussehenden nach vorn. Aber es gibt auch gute Beispiele, etwa in der Autoindustrie. Hier sind mehr Menschen mit Behinderungen beschäftigt als die fünf Prozent, die das Gesetz vorschreibt.

DIE WELT: Ein Vorbehalt gegen Sie lautetSie würden die Behindertenpolitik nutzen, um eine biopolitische Debatte zu führen.

Hüppe: Ich kenne diesen Vorbehalt, und ich nehme ihn ernst. Dass von der Linkspartei bis zur FDP aber positiv auf meine Ernennung reagiert wurde, zeigt doch, dass mir auch Menschen vertrauen, die meine bioethischen Positionen nicht teilen.

DIE WELT: Sie sind für ein ausnahmsloses Verbot der embryonalen Stammzellenforschung, lehnen eine gesetzliche Regelung der Patientenverfügung ebenso ab wie Präimplantationsdiagnostik. Nur noch eine Minderheit in der Gesellschaft denkt so wie Sie.

Hüppe: Wenn wir vor 20 Jahren die Menschen gefragt hätten, sollen wir menschliche Embryonen klonen, um sie für Forschungszwecke zu töten, hätte die Mehrheit entsetzt geantwortet"Nein. Das ist Frankenstein. Das darf es nicht geben." Aber dann setzte ein typischer Prozess einWir stellen einen Zweck über die Menschenwürde. Für ein angeblich höheres Ziel werden nach und nach alle Bedenken ausgeräumt. Den Menschen ist vorgemacht worden, alle Krankheiten dieser Welt könnten durch Forschung an embryonalen Stammzellen heilbar werden. Wir haben damals scherzhaft gefragt, ob nicht vielleicht auch die Klimakatastrophe mit embryonalen Stammzellen abgewendet werden kann, da sie ja auch sonst für alles herhalten müssen!

DIE WELT: Die Hoffnung der Menschen wird ausgebeutet?

Hüppe: Ja! Bis heute können wir durch Forschung an embryonalen Stammzellen gar nichts heilen. Die Bevölkerung ist bei solchen Heilsversprechen übrigens durchaus skeptischer als die Politiker. Bei der letzten Umfrage war eine Mehrheit gegen eine völlige Freigabe der Forschung an Embryonen. Bisher gab es auch im Bundestag noch keine Mehrheit dafür. Und ich hoffe sehr, dass dies auch unter einer christlich geführten Bundesregierung so bleibt.

DIE WELT: Die Kanzlerin hat auffallend lange gezögert, bevor sie einen neuen Behindertenbeauftragten nominierte. Hatte auch Angela Merkel Vorbehalte gegen Sie?

Hüppe: Diese Legende möchte ich gerne aus der Welt schaffen. Die Verzögerung resultierte einfach daraus, dass zum ersten Mal ein Nichtabgeordneter das Amt bekam. Es wurde erst geprüft, ob dafür eine Gesetzesänderung notwendig ist.

DIE WELT: Es war geplant, Sie hauptamtlich anzustellen, Sie aber wollten lieber ein Ehrenamt. Warum?

Hüppe: Ich hatte keine Lust, wie ein Behördenleiter die Korrektheit der Telefonabrechnungen meiner Mitarbeiter zu kontrollieren. Außerdem habe ich jetzt eine höhere politische Unabhängigkeit. Das kann ja auch noch einmal nützlich sein.

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