Helmut Müller erzählt Legenden vom Ich

Freitag, 26. Februar 2010


Von Cosima Lutz 26. Februar 2010 in der Welt

Helmut Müller ist Schauspieler. Und er hat das Down-Syndrom. Begegnung mit einem Charismatiker

Helmut Müller tritt aus dem Dunkel der Bühne nach vorne. Weit holt er mit der Rechten aus, unerwartet sachte führt er die Hand an seinen Mund. In aller Ruhe schminkt er sich die Lippen rot, einmal, zweimal akkurat im Kreis herum, dann ausufernd bis an die Wangen, unter die Nase, ans Kinn. Einzelne Lacher im Publikum. Er reagiert elegant, sagt: "Gut, nicht?" Jetzt lachen alle. In seiner schwarzen Henkerskluft, mit seinem hellen Philosophengesicht und dem knallroten Mund sieht er aus wie ein düsterer Clown, und er hat seine Zuschauer fest im Griff.

Dieser Mann hat Charisma, keine Frage. Andere Schauspieler würden ihn vielleicht eine Rampensau nennen. Andere Schauspieler gingen ja auch irgendwann zum Theater, Müller aber nahm es einfach in Beschlag. Das war vor zehn Jahren, als er als Zuschauer eine Aufführung im Berliner Ramba-Zamba-Theater stürmte.

Die Regisseurin jenes Abends und Mitbegründerin des Theaters, Gisela Höhne, erinnert sich noch gut: "Wir improvisierten eine Szene, in der eine Figur die anderen um sich herum komplett nicht wahrnimmt. Da ging Helmut einfach auf die Bühne und sagte: ,Aber - da sind die doch alle!'" Helmut Müllers Begabung fiel ihr sofort auf, kurz darauf war er engagiert. Seitdem ist er von dieser integrativen Bühne, an der Behinderte professionell Theater spielen, nicht mehr wegzudenken.

Müller ist 69, Schauspieler und hat das Down-Syndrom. Ein Ausnahmemensch, in jeder Hinsicht. Nur jeder Zehnte mit Trisomie 21, wie die Genom-Mutation auch genannt wird, die meist mit einer geistigen Behinderung einhergeht, erreicht heute überhaupt das 70. Lebensjahr. Glückliche Umstände retteten Helmut Müller vor dem Euthanasieprogramm der Nazis. 100 000 Behinderte und Psychiatriepatienten wurden damals ermordet.

Helmut Müller ist nicht einfach nur Vertreter einer Opfergruppe. Er weiß genau, dass sich auch Legenden um ihn ranken - schließlich spielt er ja mit ihnen. Eine Legende geht so: Krankenschwestern hätten im Berliner Paul-Gerhard-Stift, wo Müller 1941 geboren wurde, das Schild mit der Aufschrift "Mongoloid" von seinem Bettchen entfernt. So stand es mal in einem Artikel einer Boulevardzeitung. "Ob das so war, weiß man nicht", sagt aber Helmut Müllers älterer Bruder Olaf, sein gesetzlicher Betreuer. Noch eine Legende: Seine Mutter habe ihn versteckt. "Bewusst versteckt wurde er nicht", widerspricht Olaf. "Unsere Eltern haben versucht, ein möglichst normales Leben zu führen. Aber präsentiert haben sie ihn natürlich auch nicht." Man habe nach der Evakuierung aus Berlin, auf Stationen in Ostpreußen und im Sudetenland und auf dem beschwerlichen Fußmarsch zurück nach Berlin, schlicht "andere Gedanken" gehabt: Wo bekomme ich Heizmaterial für den Winter her, wo etwas zu essen?

Wir haben zwar einen Termin vereinbart, platzen aber trotzdem mitten hinein in die Probe auf der Bühne in der "Kulturbrauerei" in Berlin-Prenzlauer Berg. Ramba-Zamba-Stücke sind nämlich nie fertig, auch nach der Premiere geht die Arbeit weiter. Sie lebt von dem, was die Spieler an Impulsen einbringen. Auch für unser Foto weiß sich Müller zur Freude des Fotografen souverän in Szene zu setzen. Die anderen Ensemblemitglieder schauen konzentriert zu, als sei es Teil des Stücks.

Helmut habe definitiv "den Schalk im Nacken", sagt Klaus Erforth, der 1991 zusammen mit Gisela Höhne, seiner damaligen Frau, das Theater gründete und im Moment das Stück "Müller und Müller - Legenden vom Ich" probt. Müller sei ein "spontaner Komödiant", findet auch Gisela Höhne, er "sucht und berührt immer die Grenze zum Komischen", was seinen Stil so "flirrend" mache. Ja, er "wechselt die Realitäten". Erforth und Höhne bekamen 1976 selbst einen behinderten Sohn: Moritz. Der wurde zu einem der bekanntesten Ensemblemitglieder ihrer Bühne, neben Nele Winkler, der Tochter der Schauspielerin Angela Winkler, und Juliana Götze, die auch schon in Fernsehrollen brillierte.

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Das Bild, das vor allem Bruder Olaf von Helmut Müller zeichnet, passt so gar nicht ins Klischee des ausgegrenzten, bemitleideten Behinderten. "Er ist kein Einzelkämpfer, und Klaus Erforth ist auch nicht sein Ziehvater", grollt Olaf ein wenig über entsprechende Medienberichte. Von allen Seiten bekomme sein Bruder Unterstützung, er sei beliebt, und auch die Berliner Einrichtung, in der Helmut seit 1997 wohne, sei ein Glücksfall. "Wir können froh sein, dass in Deutschland die Behinderten eine so gute Lobby haben", sagt Olafs Frau.

Auf der Bühne erzählt Müller trotzdem seine eigene, eben seine Bühnen-Geschichte. Als "Kommissar H.M." macht er sich auf die Suche nach seinem "unausgelöschten Leben", steht im Programmheft. Wir sehen ihn im Kinderwagen, die Bühnen-Mutter versteckt ihn, gibt ihm die Brust. "Ich bringe dich jetzt durch", wiederholt sie ihr Mantra, eine kleine, tapfere Mutter Courage. Ein bisschen dramatische Zuspitzung darf schon sein. Die Idee zu dem Stück stammt von Helmut Müller selbst, erzählt Winfried Band, Psychologe und Müllers Betreuer im Malteserhof Reinickendorf. Erforth montierte dann Texte des großen Dichters Heiner Müller zu einer assoziativen Collage.

Heiner Müller lernte übrigens wenige Jahre vor seinem Tod 1995 das Theater Ramba Zamba noch selbst kennen. "In einer Welt, in der die alltägliche Geschwindigkeit bestimmt wird durch Computer, Wahrnehmung sich vor allem über elektronische Medien realisiert", so schwärmte damals der Dichter, setze die Arbeit von Höhne und Erforth "auf archaische Äußerungen von Individuen. Dass sie anders sind, ist ihre Qualität im Zeitalter der Nivellierungen."

Zeit, "Ich" zu sagen. Jenseits der Bühne, in der Probenpause beim Interview. Hier wirkt Helmut Müller, der Komödiant, auf einmal viel kleiner. Alles Verschmitzte ist aus seinem Gesicht gewichen, ein Melancholiker sitzt da plötzlich vor uns, und er spricht undeutlicher als auf der Bühne, schwierig fürs ungeübte Ohr. Vielleicht ist er müde von der langen Probe, er arbeitet hier fast täglich vier Stunden, und das mit 69, wer schafft das schon, selbst ohne Down-Syndrom. Wie er denn wohne, fragen wir, allein oder mit anderen? Helmut Müllers Antwort klingt wie: "Man ist immer allein." Wir wiederholen den Satz, fragen ihn, ob wir ihn richtig verstanden haben. Da nickt er und sagt "ja".

Nächste Vorstellung von "Müller und Müller - Legenden vom Ich": Heute und morgen, 19 Uhr, Theater Ramba Zamba, Tel. 030/ 437 35 744

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