Die Angst vor der Freiheit - wenn behinderte Menschen altern

Dienstag, 16. Februar 2010

Von Marcus Golling in der Augsburger Allgemeinen


Die Lebenshilfe Donau-Iller feiert in diesem Jahr ihren 50. Geburtstag. Die Neu-Ulmer Zeitung begleitet dieses Jubiläum mit einer Serie, die sich mit der Arbeit dieser Institution beschäftigt und zeigt, wie Menschen mit Behinderung in der heutigen Zeit am Alltagsleben teilnehmen.


Zwischen Pflanzen fühlt sich Sigmund König am wohlsten. „Ich mag es, wenn es dreckig ist“, sagt er und grinst. Die grüne Pracht gibt es im Winter aber nur im Gewächshaus. König arbeitet in der Stadtgärtnerei am Rande Neu-Ulms, und er tut es gerne. Siggi, wie ihn seine Kollegen nennen, hat eine geistige Behinderung, sein Arbeitgeber ist die Lebenshilfe - und das schon seit 41 Jahren. Gerade erst ist er 60 geworden, er kann bald in Rente gehen, doch Siggi König will weitermachen bis 65.

So wie dem Gärtnereimitarbeiter geht es vielen in den Donau-Iller-Werkstätten. Die Arbeit strukturiert ihren Alltag, Kollegen und Gruppenleiter in der Werkstatt sind oft die wichtigsten Bezugspersonen. Wenn selbst gewöhnliche Arbeitnehmer nach
Jahrzehnten im Berufsleben mit dem Ruhestand in ein Loch fallen, sind Menschen speziell mit geistiger Behinderung umso stärker betroffen: In ihrer Welt war alles von anderen organisiert, Arbeit, Essenszeiten, Freizeit, Urlaub. Hobbys oder private Aktivitäten kennen viele nicht. Individuelle Freizeitgestaltung will gelernt sein.

Ossi freut sich, aber er freut sich leise. Gerade erst hat er beim „Mensch ärgere dich nicht“ gewonnen. Ossi gewinnt fast immer. Und wie er sich leise freut, ärgern sich seine Mitspieler leise. Sanft klingen Walzerklänge im Hintergrund. In der Ruhestandsvorbereitungsgruppe in den Neu-Ulmer Donau-Iller-Werkstätten geht es ruhig zu. Immer zum Mittagessen treffen sich hier Mitarbeiter, die der Belastung eines vollen Arbeitstages nicht mehr gewachsen sind. So wie Ossi, der in der Metallverarbeitung arbeitet, aber mittags regelmäßig so müde war, dass er nicht mehr weitermachen konnte. Oder wie Conni, die sich regelmäßig nachmittags aus ihrer Gruppe davonstahl und durch die Gebäude stromerte.

Den normalen Alltag üben für die Zeit nach dem Beruf

Annette Sonntag betreut gemeinsam mit Kollegin Susanne Weick fünf behinderte Mitarbeiter, die an der Grenze zur Rente stehen. Die Gruppe spielt gemeinsam, kocht gemeinsam, macht auch mal gemeinsam einen Spaziergang. „Wir üben hier den ganz normalen Alltag“, sagt Sonntag. Und der macht den Anwesenden sichtlich Spaß. Zwischen Ende 40 und 60 sind die Mitglieder der Gruppe, doch viele wirken älter. Menschen mit Behinderung altern schneller, erklärt Psychologin Elvira Hensler, vor allem Menschen mit dem Down-Syndrom (siehe Infokasten). Ihre Lebenserwartung ist geringer als die des Normalbürgers. Doch auch sie steigt.

Dass behinderte Menschen ins Rentenalter kommen, ist ein Phänomen, das vor zehn Jahren noch kaum bestand. Im Nationalsozialismus wurden mehrere Generationen vor allem geistig behinderter Menschen fast komplett ausgelöscht. Wer 1945 geboren wurde, wird heuer 65 - und geht spätestens dann in die Rente. Bereits jeder zehnte der 250 Mitarbeiter in den Werkstätten sei über 50, schätzt Sozialdienstleiter Joachim Schlichting. Viele schafften den Absprung ganz normal. Andere bräuchten Beistand, zum Beispiel in der Ruhestandsvorbereitungsgruppe, die es seit vergangenem Sommer gibt.

Der Abschied fällt schwer. Viele Mitarbeiter kommen auch nach Rentenantritt noch in die Werkstatt. Sie wollen nur dabei sein, in ihrem gewohnten Umfeld und gewinnen nur langsam Abstand. „Ausschleichen lassen“ nennt Psychologin Hensler das. Auch Sigmund König, der in einer Lebenshilfe-Wohngruppe in Ulm lebt, will, wenn er in ein paar Jahren die Rente kommt, weiter in der Gärtnerei helfen. Ein paar Stunden vormittags nur, er fühle sich immer noch fit. Danach kann er sich immer noch seinem Hobby widmen: der Handarbeit. Häkeln, Stricken, Weben - wer sich so beschäftigen kann, muss vor dem Ruhestand keine Angst haben.

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